In der Corona-Krise kommen nur noch wenige Patienten mit akuten anderen Leiden in deutsche Kliniken. Da niemand an einen plötzlichen Einbruch der Schlaganfall-Zahlen glaubt, beschleicht die Mediziner eine böse Vorahnung.
Mediziner und Krankenhäuser beobachten in der Corona-Krise einen beunruhigenden Trend. Wohl aus Angst vor einer Infektion kommen sehr viel weniger Patienten mit akutem Behandlungsbedarf in die Kliniken. „Wir stellen fest, dass Diagnosen wie Schlaganfallverdacht, Herzinfarkt oder Blinddarmentzündung deutlich nachgelassen haben“, sagt Siegfried Hasenbein, Geschäftsführer der Bayerischen Krankenhausgesellschaft in München. Gleiches gilt für Krebspatienten.
Eine genaue Statistik gibt es noch nicht, aber Mediziner registrieren das Phänomen deutschlandweit: „Wir haben auf einmal sehr viel weniger Patienten mit dringenden Symptomen“, sagt der Lungenkrebsspezialist Niels Reinmuth, Chefarzt für Thorakale Onkologie an der Asklepios Fachklinik in Gauting bei München. „Das ist etwas, das wir alle beobachten.“
Zahlen nennt das Klinikum Nürnberg: Demnach gibt es bei den stationären Aufnahmen einen deutlichen Rückgang einzelner Diagnosen, der sich vor allem seit der elften Kalenderwoche bemerkbar macht. „In die kardiologische Notaufnahme kommen zwischen 20 und 30 Prozent weniger Patienten zur Abklärung unklarer Brustschmerzen“, teilt das Krankenhaus mit. Und in der neurologischen Notaufnahme gibt es demnach im Vergleich zu 2019 deutliche Rückgänge bei Schlaganfallverdachtsfällen von minus 30 Prozent.
Ein Sprecher der DAK-Gesundheit sagte gegenüber WELT, im März seien laut einer Sonderanalyse der Krankenkasse 25 Prozent weniger Menschen mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert worden als im März 2018 und 2019.
2018 gab es 210.000 Herzinfarkte und etwa 300.000 Schlaganfälle in Deutschland. Dass sich diese Zahlen wegen der Corona-Epidemie plötzlich verringert haben, glaubt niemand in der medizinischen Gemeinde.
„Es muss aber vermieden werden, dass Angst vor dem Virus andere Krankheiten und Todesfälle verursacht“, sagt ein Sprecher der Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf.
Die größte medizinische Krise der vergangenen Jahrzehnte hat für die Krankenhäuser bisher die eigenartige Folge einer außergewöhnlich schwachen Auslastung. Die befürchtete Welle von Corona-Patienten ist zur Erleichterung aller Beteiligten ausgeblieben. Alle planbaren Behandlungen wurden verschoben.
So sind in Bayerns Kliniken nach Angaben der örtlichen Krankenhausgesellschaft derzeit im Schnitt zwischen 40 und 60 Prozent der Betten nicht belegt. „Auch auf den Intensivstationen sind noch Kapazitäten frei“, sagt Geschäftsführer Hasenbein. In Nordrhein-Westfalen ist die Lage ähnlich. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft schätzt, dass derzeit bundesweit 150.000 Betten frei sind.
„Kein erhöhtes Ansteckungsrisiko für andere Patienten“
Auch die Rettungsdienste haben vergleichsweise wenig zu tun: „In den letzten Wochen nehmen wir einen stetigen Rückgang an Krankentransporte wahr“, heißt es beim Bayerischen Roten Kreuz in München. Deswegen sollen die Krankenhäuser nun schrittweise wieder in den Regelbetrieb wechseln.
Aus ärztlicher Sicht besorgniserregend ist der unerwartete Rückgang der Patienten mit akuten Symptomen. Dabei tun die Häuser alles, um die Ansteckungsgefahr zu minimieren: Corona-Infektionen werden getrennt von allen anderen Patienten behandelt.
„Mit der abgetrennten Station und der Zimmerisolierung besteht kein erhöhtes Ansteckungsrisiko für andere Patienten“, heißt es etwa bei der Asklepios-Klinik im oberbayerischen Bad Tölz. Das Muster ist bundesweit gleich, die Kliniken folgen den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts.
„Sorge, dass im Sommer viele Patienten kommen, die besser vier Monate früher gekommen wären“
Patienten mit akuten Erkrankungen laufen große Gefahr, wenn sie nicht zum Arzt gehen. „Wenn man akuten Behandlungsbedarf nicht erkennt, riskiert man möglicherweise lebensbedrohliche Probleme“, sagt der Gautinger Chefarzt Reinmuth. „Bei einem Tumor kann eine Verzögerung bedeuten, dass die Erkrankung gar nicht mehr oder mit sehr viel schlechteren Heilungschancen behandelt werden kann.“
Viele Ärztinnen und Ärzten treibt daher in diesen Tagen eine Frage um: „Wir haben die Sorge, dass wir im Sommer viele Patienten bekommen werden, die besser vier Monate früher gekommen wären“, sagte der Onkologe.
Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU) appelliert an die Bürger: „Wer Symptome etwa auf einen Herzinfarkt oder auf eine andere schwerwiegende Erkrankung verspürt, sollte sich unbedingt vom Arzt untersuchen lassen.“ Allerdings sind alle Patienten gebeten, zunächst telefonisch Kontakt aufzunehmen und das weitere Vorgehen abzuklären.
Quelle: WELT 23.04.2020